TEXTE.

Atelier Gläser
Um Ecken gucken. – Durch Mauern durchsehen. – Sieht das alles wirklich so aus?

BLIESKASTEL KUBISTISCH – DUB VERSION, VOL. 1

Kubismus und Dub-Reggae: War Braque je auf Jamaika? Und hat er Picasso eine selbstgemalte Urlaubskarte von dort geschickt? Hatte Lee Scratch Perry ein Ton-Studio auf dem Montmartre? – Und was hat das alles mit Blieskastel zu tun?

Antworten auf nie gestellte Fragen gibt eine Ausstellung mit Foto-Collagen, die die Blieskasteler Altstadt zum Thema haben und dem Publikum bekannte und unbekannte Häuser in Blieskastel auf eine ganz erstaunliche Art zeigen.

Die Ausstellung wirft aber auch neue Fragen auf:
-Gibt es Pagoden in Blieskastel?
-Warum essen die Kaschteler mitten im Winter und in T-Shirts Eis auf dem Alten Markt?
-Wem ist das Wort auf dem Stromkasten neben dem „Ackermann“ gewidmet?
-Was wird vor der „Klamotte“ gefeiert?
-Wer kennt die fünf-fache Frau vor dem Friseurladen am Alten Markt?
-Und warum kriegt sie das Bild geschenkt, wenn sie sich meldet?

Blieskastel, eine Stadt ohne Perspektive? – Niemals: Auch eine verzerrte Perspektive ist eine Perspektive. Und wer legt eigentlich die Parameter fest: Den Standpunkt? Den Fluchtpunkt? Den Horizont?

Was aber hat das denn nun mit Kubismus und Dub-Reggae zu tun?

Die Kubisten eröffneten dem zweidimensionalen Medium Malerei eine neue Dimension, als sie die Beschränkung auf einen einzigen Augpunkt, von dem aus der Maler den Raum möglichst naturalistisch zu entwickeln habe, über Bord warfen und mehrere Perspektiven in einer Darstellung zusammenfallen ließen, was dem Betrachter ermöglicht, in dem Bild zu wandern, also ein und den denselben Gegenstand nicht nur von einer Seite zu betrachten, sondern gleichsam um ihn herumzugehen, was zwar im Ergebnis nicht der optischen Wahrnehmung des eingefrorenen Augenblicks entspricht, aber umso mehr der menschlichen Art, dreidimensionale Objekte tatsächlich zu erfassen, über diese also Wesentliches eher auszusagen vermag.

Vergleichbares passiert musikalisch im Dub, einer instrumentalen Spielart des Reggae, die im Ursprung Studio-Musik ist und der Legende nach von besagtem jamaikanischen Reggae-Musiker und -Produzenten Lee Scratch Perry erfunden wurde, als er eines Tages im Studio eine Gesangsspur versehentlich gelöscht und einfach mit den noch vorhandenen Instrumental-Spuren zu experimentieren begonnen hatte. Er dröselte in die Bestandteile auf, was die Band zuvor bei ihm aufgenommen hatte. Was ihm gefiel, isolierte er und setzte es losgelöst von allen Song-Strukturen neu zusammen, loopte die Partikel, verfremdete sie, indem er die Sound-Schnipsel durch Effekt-Geräte jagte, und konnte so ein Stück von allen Seiten beleuchten, sein Wesen und seine Möglichkeiten aufzeigen.

Eine Erweiterung der Wahrnehmung strebe ich auch mit den Foto-Collagen an, die ab Freitag, dem 27. März, im „Kunstraum Videre“ in der Kardinal-Wendel-Straße 64 in Blieskastel zu sehen sein werden. Selbstverständlich wird ein Sound-System installiert sein, das den Kunstraum im Rahmen der Ausstellungseröffnung mit dem Dub-Reggae eigenen mächtigen Bässen beschallen wird. Zur Entspannung des Publikums wird der DJ aber sicher auch abstrakten Punk oder avantgardistischen NoWave-Krach einstreuen.

Nach dem Besuch der Ausstellung werden Sie ohne Ohren und mit anderen Augen durch die Stadt gehen.

Zusammenhänge zwischen Kubismus und Dub-Reggae am Beispiel Blieskastel.
Foto-Collagen von Til Gläser.
Kunstraum Videre, Kardinal-Wendel-Straße 64, 66440 Blieskastel.
Vernissage: Freitag, 27. März 2015, ab 18 Uhr.
Ausstellung: bis zum 18. April 2015.


ENTSTEHUNG DER IDEE

Der Ursprung zur vorliegenden Reihe von Blieskasteler Häuser-Portraits liegt in der Beschäftigung mit dem Leerstand in der Blieskasteler Altstadt. Sichtbarer Leerstand, also der Leerstand vor allem von Ladenlokalen und der ganzer Häuser, signalisiert Verödung, und dieser Eindruck verstärkt die Tendenz zu weiterer Verödung.

Nun ist entweder kein Geld da, oder es fehlt die Bereitschaft, welches zu investieren, wofür es ohne weiteres nachvollziehbare Gründe gibt. Dies soll hier aber gar nicht diskutiert werden: Die Vorstellung war, zusammen mit Anderen Ideen zu Zwischennutzungen zu entwickeln, die wenig kosten, aber die Häuser revitalisieren und ihre Attraktivität in der öffentlichen Anschauung verbessern können.

Der erste Schritt sollte eine Bestandsaufnahme sein, die bisher allerdings keinerlei Vertiefung erfahren hat, sondern im wörtlichen Sinn an der Oberfläche geblieben ist, indem sie sich auf das Abfotografieren von Fassaden beschränkt.

Das liegt daran, dass zunächst eine Reflektion über Wahrnehmung und Darstellung in den Mittelpunkt meines Interesses gerückt ist und sich damit auch der Fokus von den oben angesprochenen Problemfällen wegverlagert hat. Wie jeder, der selbst fotografiert, weiß, ist es in sehr engen Gassen, wie sie für die Blieskasteler Altstadt typisch sind, nicht möglich, Fassaden auch nur halbwegs verzerrungsfrei zu fotografieren, bzw. sie in ihrer Gesamtheit überhaupt von einem einzigen Standpunkt aus zu erfassen.

Nun entspricht der verzerrte Blick aufgrund beengter räumlicher Verhältnisse durchaus der Realität menschlicher Wahrnehmung und sollte durch fotografische Kniffe keineswegs wegmanipuliert werden. Wohl aber lässt sich der Blick auf Teile einer Fassade optimieren durch entsprechende Anpassung des Standpunktes.

So nahm die Idee, einzelne Fotos zu Gesamt-Portraits zu collagieren, Gestalt an. Ich habe versucht, alle zugänglichen Gebäudeteile so gut es ging zu erfassen. Von größeren Gebäuden oder von Gebäuden, die mehrere im Stadtbild ablesbare Fassaden haben, habe ich Dutzende von Fotos gemacht, die ich später so zusammengesetzt habe, dass alle überhaupt sichtbaren Elemente in einer einzigen Darstellung zusammenfallen.

Die den Collagen zugrunde liegenden Fotos sind ohne den Einsatz irgendwelcher speziellen Objektive entstanden, und auch die Geometrie der auf den Fotos erfassten Fassadenelemente ist nicht nachträglich manipuliert worden. Alles, was auf den Collagen zu sehen ist, kann von einem ganz bestimmten Punkt aus genau so wahrgenommen werden. Was sich ändert, ist allein der Standpunkt, genauer gesagt: der Augpunkt. Alles ist an seinem Platz, und dennoch ergeben sich manchmal ganz überraschende Darstellungen. Die mehrfach gebrochenen Perspektiven in jeder Collage stellen Sehgewohnheiten in Frage und sollen den Betrachter motivieren, sich vermeintlich sattsam bekannte Gebäude noch einmal ganz genau anzugucken.

Es geht in den hier gezeigten Bildern nicht um Kunst. Sie sind vielmehr ein Versuch, mit einer anderen Art von Architekturfotografie dem Wesen eines Gebäudes womöglich näher zu kommen als mit Aufnahmen, die den Blick des Betrachters sehr stark steuern.

Die heute vorgestellten 19 Arbeiten stellen den Anfang einer losen Folge weiterer Portraits dar. Am Ende soll die gesamte Blieskasteler Altstadt erfasst sein. Vielleicht werde ich bestehende Portraits auch ergänzen, sollten sich markante Änderungen an bereits aufgenommenen Häusern ergeben. Das Ganze ist als offener Prozess gedacht.

Zunächst aber soll der städtebauliche, und das heißt: der soziale, Aspekt des ersten Ansatzes wieder in den Vordergrund treten, und hier sind alle, denen Blieskastel am Herzen liegt, aufgerufen mitzumachen.

Til Gläser, 27. März 2015